Wolf von Lojewski

Die Geschichte vom hässlichsten Tannenbäumchen der Welt

Es war auf einer Weihnachtsfeier im Herzklinikum in Heidelberg. Ein fröhlicher Anlass, eine erwartungsvolle Gemeinde. Kinder waren versammelt und ihre Eltern, Ärzte und Pfleger. Erkennbar krank schien eigentlich keines. Nur ein paar Kleinigkeiten waren anders als sonst bei solchen Weihnachtsfeiern. Ein junger Arzt kam herein, den die Kinder kannten und freundschaftlich begrüßten. Er zog seinen Kittel aus und zwängte sich in einen langen roten Mantel, stülpte sich eine Zipfelmütze über, hängte sich einen weißen Bart unters Kinn, und plötzlich stand da der Weihnachtsmann.

»Sie müssen verstehen«, erklärte der Professor neben mir, »dass wir die Kinder nicht erschrecken wollen. Jede plötzliche Erregung kann ihr kleines Herz zu stark belasten.« Dem Weihnachtsmann müsse jeder Schrecken genommen werden, alles Bedrohliche und Abrupte, denn all die munteren Kinder in der Runde waren mit Herzfehlern geboren – einige mit Trennwänden, dünn wie Papier. Viele von ihnen seien mehrfach operiert, einige schon gleich nach ihrer Geburt und sozusagen in der Herzklinik zu Hause … Fair ist das nicht vom Schicksal, aber – Gott sei Dank – die Medizin kann heute ja schon einiges reparieren und den mit einem Handicap ins Leben startenden Jungen und Mädchen eine Chance geben.

Meine Aufgabe als prominenter Gast vom »heute journal« war es, ein Weihnachtsmärchen vorzulesen. Pippi Langstrumpfs Abenteuer hatte man mir zugeschickt und noch ein paar andere hübsche Geschichten zum Warten auf die Bescherung. Ich hatte mich schwer getan mit der Entscheidung, dann plötzlich kam mir eine Idee. Da war doch etwas in meinen frühen Jahren beim Fernsehen:

„Die Geschichte vom hässlichsten Tannenbäumchen der Welt.“

An das Jahr konnte ich mich nicht mehr erinnern. Es muss irgendwann nach meinem Examen gewesen sein. Es war in Kiel, und ich lebte noch bei meinen Eltern. Ich fuhr ein Auto der Marke „Glass“ – eine weiße Limousine, viel schnittiger als jeder BMW. Eigentlich war es schon ein Sportwagen, denn ich verdiente in jungen Jahren sehr viel Geld. Hier drehte ich einen Film, dort hatten wir eine Außenübertragung. Zwischen Göttingen und Emden, Lübeck und Osnabrück haben wir mit unseren riesigen Übertragungswagen die Rathausmärkte blockiert. Ich war der jüngste Reporter, und Hermann Rockmann, eine Stimme wie ein Gewitter, war der große Star; er pflegte damals noch die Wochenschauen zu sprechen. Auch Christian Müller und Ingrid Lorenzen waren mit von der Partie – Stars jener Tage, die weit über den norddeutschen Raum hinaus jedermann kannte oder doch kennen musste.

Also, erklärte ich meiner kleinen Gemeinde, es war eine aufregende Zeit, und ich fuhr in meinem schnittigen Auto kreuz und quer durch die Gegend, um mich hier live vor eine elektronische Kamera zu stellen und Stahlwerke, Flughäfen, Schiffswerften oder Autofabriken in all ihrer Hitze und Hektik vorzuführen und dort politische Skandale zu enthüllen oder mit dem Leuchtturmwärter und seiner Frau über ihre Einsamkeit und über ihre Ehe zu reden. Themen gab es genug, und das Fernsehen war wie ein Fieber. Na ja, und dann kam die Geschichte mit dem Tannenbaum …

Ich hatte meinen Eltern fest zugesagt, mich – wie in jedem Jahr – auch diesmal wieder um einen Tannenbaum zu kümmern. Doch damit ließ ich mir viel Zeit, denn ich war ja gar nicht zu Hause in den letzten Tagen vor dem Fest, sondern in wichtiger Mission immer unterwegs. Am Heiligen Abend, etwa um 10 Uhr, zog ich dann aber los zu den üblichen Straßenecken und Plätzen, um der Familie den Lichterbaum zu beschaffen.

Hier machte ich eine Pause in meiner Geschichte und schweifte etwas ab, erzählte meiner Gemeinde, wie schwer es Tannenbäume haben im Wettbewerb um die Gunst der Menschheit. Denn während die Menschen selbst mal dick sind und mal mager, mal spitze und mal breite Nasen haben, man diesem grobe und jenem etwas dünne Arme nachsieht, hier einen langen und dort mal wieder einen zu kurzen Hals, ist der Schönheitsanspruch an den Weihnachtsbaum ganz streng und unduldsam. So ein Baum ob nun groß oder klein – muss gerade gewachsen sein wie ein Besenstiel, von gleichmäßiger Verteilung seiner Äste – unten stark und weit und dann von Stufe zu Stufe nach oben kürzer, bis schließlich die kräftige, nicht zu kurze, nicht zu lange Spitze das Draufsetzen eines Sterns oder eines Engels gestattet. Außerdem muss ein jeder Ast so harmonisch über den Stamm verteilt sein, dass die Äste über ihm keinesfalls den Kerzen darunter zu nahe kommen können. Denn sonst könnten die kleinen Flammen sehr leicht einen Stubenbrand entfachen. »Ihr seht«, sagte ich den Kindern in festlicher Bescheidenheit, »ich bin ein Experte, eine Autorität für Weihnachtsbäume!«

Und noch etwas schob ich hier ein, das den noch unschuldigen Seelen einmal eine Hilfe sein könnte beim Einstieg in das rauhe Wirtschafts- und Erwachsenenleben: »Der Handel mit Tannenbäumen ist nun einmal ein Saisongeschäft. Es hätte keinen Sinn, einen Fachhandel oder gar ein Kaufhaus für Weihnachtsbäume zu betreiben, weil man damit nur in der Adventszeit etwas verdienen kann; den Rest des Jahres würden die Verkäufer völlig frustriert herumstehen und vergeblich auf Kundschaft warten. Die, die mit Tannenbäumen handeln, tun dies als Nebenbeschäftigung, zum zusätzlichen Verdienst, und nur einmal im Jahr erlaubt ihnen die Polizei ihr munteres Treiben auf offener Straße.«

Nach soviel Theorie, die von meinem abgebrochenen Volkswirtschaftsstudium noch übrig war, aßen wir erst einmal einen Keks und sangen ein Lied, denn als Fernsehmensch habe ich schließlich gelernt, mit der Gefahr umzugehen, dass ein Publikum sehr schnell ermüden kann. Danach also ging diese Vorlesung weiter, und ich machte mich daran, meiner inzwischen gestärkten Zuhörerschaft in diesem Krankenhaus noch weitere Lektionen über Chancen und Risiken im Wirtschaftsleben zuzumuten.

»Ihr könnt Euch vorstellen, dass es verhältnismäßig einfach ist, eine Bäckerei zu betreiben. Tagtäglich backt der Bäcker sein Brot, und seine Frau weiß mit der Zeit genau, wie es den Leuten schmeckt und wie viel Brote sich wohl Tag für Tag in ihrem Laden absetzen lassen. Ganz anders ist die Sache, wenn einer nur einmal im Jahr mit seinen Tannenbäumchen an der Straßenecke steht. Die Kunden kommen von überall her. Der eine kauft sein Bäumchen hier, der andere findet es dort. Wenn ein Tannenbaum-Verkäufer das Risiko scheut, dann kauft er beim Großhändler nur zwanzig oder dreißig Bäumchen ein und stellt dann hinterher fest, dass er alle schon nach drei Tagen verkauft hat, und er ärgert sich, weil er gut und gerne die dreifache Menge hätte absetzen können. Im Jahr darauf kauft er dann hundert oder zweihundert Bäumchen, und wenn die Kollegen an der nächsten und an der übernächsten Ecke in dem Jahr genauso kalkulieren, dann stehen sie alle am Heiligen Abend mit ihren Bäumen da und werden sie nicht los. Vor dem nächsten Weihnachtsfest sind sie dann wieder besonders vorsichtig und kaufen alle viel zuwenig ein, und die Kunden suchen verzweifelt nach einem Bäumchen, und jeder muss sehen, dass er noch eines abbekommt. So geht das von Jahr zu Jahr, so funktioniert die Wirtschaft … Ihr seht«, schloss ich stolz diese etwas schwierige Lektion:

»Wer den Zyklus der Weihnachtsbäume begreift, der versteht das Leben!«

Meine Zuhörer nahmen all diese Weisheiten gelassen auf, aber nun waren sie seelisch und wissenschaftlich gestärkt, die volle Tragweite dessen zu überschauen, was an jenem Weihnachtsfest in Kiel geschah. Also: Es war eins der Jahre allseits geringer Risikobereitschaft, und ich zog von einer Straßenecke zur nächsten – und nirgendwo ein Weihnachtsbaum! Da und dort ein paar abgebrochene Zweiglein oder Tannennadeln, die auf dem noch ungefegten Bürgersteig untrügliche Zeichen dafür waren, dass hier mal jemand mit Bäumchen gehandelt hatte.

Ich verließ die Grenzen unseres Stadtteils und fuhr weit über meine üblichen Reviere hinaus, und überall, wo ich nach einem Verkaufsstand für Tannenbäume fragte, erinnerten sich die Leute, dass sie dergleichen durchaus schon mal gesehen hätten, aber das sei nun schon Tage her. Mal erntete ich ein mitleidiges, mal ein vorwurfsvolles oder gar schadenfreudiges Lächeln. Und schließlich wurde mir angst und bang, denn ein schlechtes Gewissen hatte ich schon, wieder einmal meinen Beruf und dieses drogenhafte Fernsehen viel zu wichtig genommen und mich um das Weihnachtsfest und um die Familie viel zuwenig gekümmert zu haben.

Plötzlich – aus meinem schneidigen Auto heraus – sah ich einen Mann mit einem Besen und einer Karre und nicht weit von ihm entfernt etwas Grünes. Kein Zweifel, was dort an einem Verkehrsschild lehnte, war ein Tannenbaum! Ich bremste hart und hastete an die Stelle und hatte panische Angst, es könnte im Bruchteil einer Sekunde noch jemand schneller sein und mir den letzten Weihnachtsbaum in der ganzen Stadt vor der Nase wegschnappen. Ich hechtete geradezu aus dem Auto und stand … vor dem hässlichsten, zerrupftesten Tannenbaum der Welt! Er war schief und bestand aus wenigen krummen Zweiglein – die einen zu dick und die anderen ganz schwächlich, einige waren auch abgeknickt, und die Nadeln hingen braun und traurig herunter. Unten war er sehr klobig, oben ganz mickrig und zerzaust und außerdem noch kahl an dieser und an jener entscheidenden Stelle. Er war schlichtweg ein Stück Müll, das der Mann mit dem Besen gerade auf seinen Karren werfen und irgendwo entsorgen wollte.

»Ich suche einen Tannenbaum«, sagte ich tapfer. »Was kostet der?« Der Mann wollte gar nicht wieder aufhören zu lachen, brach dann aber plötzlich ab und sagte streng: »Sie wollen mich auf den Arm nehmen! Aber wenn er Ihnen wirklich gefällt, nehmen Sie ihn, er kostet nichts. Nur eins muss klar sein: Wenn Sie dann doch zurückkommen sollten, und ich erwische Sie dabei, dass Sie dieses Gestrüpp wieder auf die Straße schmeißen, und ich muss nochmals ran und die Straße säubern, dann können Sie mich mal richtig böse erleben!“

Ich lud den Baum ein und fuhr eilig nach Hause. Meine Mutter sagte nichts, als ich meine Trophäe verschämt in die Wohnung schleppte. Und da ich auch zuständig war für das alljährliche Schmücken des Weihnachtsbaums, nahm ich all meine künstlerischen Eingebungen und Talente zusammen, hängte und schob stundenlang Kugeln hin und her, versuchte irgendwo Kerzen anzubringen und auch die letzte braune oder kahle Stelle mit Lametta zu verdecken. Ich rangierte dieses Ungetüm von einem Weihnachtsbaum Zentimeter um Zentimeter nach jeder nur denkbaren Seite, um die Stelle nach vorne zu drehen, die noch am wenigsten hässlich erschien. Der Rücken und die Schrägen wurden so fest und geschickt in eine Zimmerecke gedrückt, dass der eintretende Betrachter all die Verstümmelungen und offenen Wunden nicht sehen konnte.

Als die Zeit der Bescherung kam, durften meine Eltern ins Weihnachtszimmer. Auch Vater sagte kein Wort, er schaute stumm und fast so besinnlich wie immer auf die brennenden Kerzen. Meine Mutter musste ihn wohl vorbereitet und ins Gebet genommen haben – wenn, dann nicht sofort zu explodieren oder zu lachen und damit jeden Ansatz von Weihnachtsstimmung von vornherein zu ruinieren. Wir tauschten Geschenke aus, wünschten uns alles Liebe, wir sangen Weihnachtslieder, und schließlich stellte mein Vater fest:

»Der Baum hat irgendwie Charakter! «

Selten zuvor war mir so heiß und doch auch so weihnachtlich zumute. Ich war bereit, mich zu bessern, bereit zu Frieden und Versöhnung mit allem und jedem, und war auch fest entschlossen, an alles zu glauben, was die Weihnachtslieder aus dem Radio versprachen.

Von Tag zu Tag liebten wir unseren Weihnachtsbaum mehr.

Und, so schloss ich meine Geschichte auf der Krankenstation, dieser Baum welches Jahr es auch gewesen sein mag ist der Weihnachtsbaum, dessen Lichter noch heute in meiner Seele brennen. Nie werde ich ihn vergessen!

Die Kinder fanden die Geschichte soweit ganz in Ordnung und machten sich wieder über die Kekse her. Und das wiederum ermutigte mich, noch ein paar Sätze recht allgemeiner Art hinzuzufügen – sozusagen meine Erfahrungen im Umgang mit Menschen, wiederzugeben. »Wir alle wissen ja, dass es Jungen und Mädchen, Frauen und Männer gibt, die schön sind und gut gewachsen und somit bei äußerer Betrachtung ganz ohne Fehler. Die haben viele Freunde. Und dann gibt es welche, die sind mit kleinen Unebenheiten auf die Welt gekommen. Dem einen stehen die Ohren ab, eine anderer schielt, oder – wie es euch nun einmal ergeht – jemand wird mit einem kranken Herzen geboren. Meine Erfahrung ist, dass es nicht immer die Wundervollen und Artigen, und Fleißigen, und Klugen sind, die man als Freundinnen oder Freunde suchen muss. Die Schönen und Idealen – natürlich nicht alle –, die können doch sehr mit sich selbst und mit ihrer Schönheit beschäftigt sein. Und das füllt sie aus, und für jeden Gedanken an anderes und an andere bleiben nicht mehr viel Energie und Interesse. Manchmal kann Schönheit sogar ein bisschen langweilig sein. Alles ist so perfekt und so selbstverständlich. «

Und so schloss ich diese Weihnachtsgeschichte: »Denkt irgendwann einmal, erinnert euch gelegentlich an meinen Tannenbaum! Krumm war er und zerzaust, und keiner wollte ihn haben. Und doch: In meinem Leben ist er etwas sehr Besonderes gewesen. Für mich war er das schönste Bäumchen, vor dem ich je das Weihnachtsfest gefeiert habe. Alle anderen sahen irgendwie gleich aus, und ich habe sie bald wieder vergessen.«

Die Kinder fanden auch dies soweit in Ordnung, und wir haben wieder Kekse gegessen und Lieder gesungen. Und dass sie etwa selbst – der kleinen kranken Herzen wegen – nicht die perfekten Bäumchen sein könnten im Sturm des vor ihnen liegenden Lebens, das ist ihnen gar nicht erst in den Sinn gekommen. Denn da ist etwas mit dem Herzen, das stark macht und schön, das man nicht sehen und nicht messen kann. Aber ganz fest spüren.

Mit freundlicher Genehmigung durch die Verlagsgruppe Lübbe.

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